Dr. Ronny Patz
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Integration
Infos zum Erasmus-Aufenthalt
Das Semester in Estland an der Tartu Ülikool war mit Abstand mein bestes Studiensemester.
Wahl des Ziellandes
Ich bin nach Estland gegangen, weil es für mich in der EU das Land war, von dem ich am wenigsten wusste, ich die Sprache nicht konnte, die Kultur nicht kannte und keine Ahnung hatte, was mich wirklich erwarten würde. Außerdem wollte ich in eines der Länder, das 2004 der EU beigetreten war.
Die ersten Höhepunkte starteten schon vor meinem Aufenthalt: noch in Berlin hatte ich ein Sprachtandem mit einer Estin, durch die ich bereits mit der Kultur und Sprache des Landes in Kontakt kommen konnte und die ich ansonsten niemals getroffen hätte. Die Partnerhochschule in Tartu hatte mir zudem schon vor Ankunft eine studentische Mentorin zugeteilt, die mich bei den dringendsten organisatorischen Fragen beraten hat, sodass ich mit wenig Sorgen anreisen konnte. So eine Betreuung war ich von meiner Heimathochschule nicht gewohnt.
Neue Sprache lernen
In Tartu war die Betreuung der Hochschule ebenso gut, wir hatten tolle englischsprachige Kurse und so intensiven Sprachunterricht, dass ich nach drei Monaten bereits genügend Estnisch sprach, um im Alltag zurechtzukommen. Diese Erkenntnis, wie schnell man eine komplett neue Sprache lernen kann, neue Leute kennenlernt, wenn man sich nur darauf einlässt, hat es mir ermöglicht, für meinen ersten Job nach dem Studium in die Republik Moldau zu gehen und dort selbstständig Rumänisch zu lernen.
In der Zeit in Tartu hatte ich mit so vielen europäischen Mitstudierenden zu tun, wie nie zuvor – die Monate im geteilten Wohnheimzimmer mit einem russischen Studenten waren zwischenmenschlich die prägendste Zeit. Das Zusammenwachsen einer Gruppe von Studierenden aus allen Ecken Europas in einem für uns alle neuen Land war eine beindruckende Erfahrung.
Fachliche Qualifikationen
Beruflich hat mich der Aufenthalt in mehrfacher Hinsicht weitergebracht: Ich habe in dem Semester so viel über Mittel- und Osteuropa gelernt, wie im ganzen Studium nicht. Wissen, dass mich bis heute in meiner Arbeit als Politikwissenschaftler begleitet. Dadurch, dass Estland bereits 2005 überall Highspeed-Internet und WLAN hatte – Deutschland war da noch weit zurück – habe ich mir auch angewöhnt, meine wissenschaftlichen Recherchen viel mehr über das Internet durchzuführen und habe mir dadurch Methoden angeeignet, die heute Wissenschafts-Alltag sind, aber es in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht waren.
Außerdem habe ich mit Hilfe der Mitarbeiterin der Universität, unsere Kontaktperson im Alltag, einen Praktikumsplatz im estnischen Bildungsministerium bekommen, durch den ich viel über europäische Politik und Europa in Estland gelernt habe. Dieses Praktikum war mit Sicherheit die Tür zu weiteren Karrierestufen.
Fazit
Was das Semester für mich gezeigt hat, war, dass Europa größer ist als Deutschland und Frankreich (dort war ich während mehrerer Schüleraustausche) und dass man Europa nur versteht, wenn man sich auch auf Neues einlässt – weil das Neue in Europa am Ende viel vertrauter ist, als man sich das aus der Ferne vorstellt.
Ich würde immer wieder für mein Erasmus-Semester nach Tartu gehen, und ich wäre, ohne diese Zeit, wahrscheinlich nicht Politikwissenschaftler geworden. Ein paar der didaktischen Methoden, die ich damals in Estland entdeckt habe, verwende ich noch heute in meiner Lehre.